MYSTERIUM TREMENDUM von Claudia Schink

Meditationen zu der Werktrilogie “Transit”

I. Der Tod im Leben
“Dieses Gefühl war im Grunde ein aufdämmerndes Bewußtsein der Präsenz der Toten inmitten der Lebenden, der Präsenz der toten Körper und nicht mehr nur der Hülle einer unsterblichen Seele oder ihres Doppelgängers. Zunächst aber mußte man die diffuse Angst abstreifen, die alles übrige maskierte. (...) Die Bleibe der Toten inmitten der Wohnsitze der Lebenden muß zer- stört werden, sein Erdreich muß unter Pflug und Egge genommen, Leiber und Gebeine ihm ent- rissen werden, um sie in dunkle Stollen zu versenken, die dem Tageslicht und dem Blick der Menschen entzogen sind, die Luft muß durch Strohfeuer gereinigt und der grauenhafte Platz schließlich eingeebnet werden, damit keine Erinnerung an ihn fortbesteht.”1

Seine Ahnung trifft in der Mitte des Lebens ein, die Gewißheit kündigt sich an im Spiel: unver- mittelt erscheint der Tod als Antwort auf die eigene Biographie. Der Teminus “nunc stans” bezeichnet jene plötzlich inmitten des Lebens auftretende divinatorische Sicht des Todes. Dem Lebenden begegnet der Tod aus der Richtung, in die er schreitet, der Hafen nähert sich dem Schiff: “der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn”.2 Die Vorahnung des Todes be- deutet sein Überschreiten in die Zone des Lebens, der Tod erscheint im Bereich der Sichtbarkeit. Ein fremder Tod ist der Tod der anderen, nicht gültig für das Selbst, sein Tod ist nicht bewiesen. “In welcher Weise das alltägliche Sein zum Tode die so gegründete Gewißheit versteht, verrät sich dann, wenn es versucht, sogar kritisch vorsichtig und das heißt doch angemessen über den Tod zu ‘denken’. Alle Menschen, soweit man weiß, ‘sterben’. Der Tod ist für jeden Menschen im höchsten Grade wahrscheinlich, aber doch nicht ‘unbedingt’ gewiß. Streng genommen darf dem Tod ‘nur’ empirische Gewißheit zugesprochen werden. Sie bleibt notwendig hinter der höchsten Gewißheit zurück.“3 Solange ein Mensch nicht selbst stirbt, verharrt sein Tod in bloßer Möglich- keit, doch äußert er sich in einer permanenten Ankündigung durch ein wiederholtes Überschrei- ten des Horizontes. Das unvermittelte Auftauchen des Todes aus den Richtungen der Zukunft führt den Schock mit sich, das Leben sei nicht ohne Ende und grenzenlos. Sein Schrecken liegt darin, daß er die Gewohnheit des Lebens als eine Illusion erscheinen läßt, die zwischen den Meeren des Nichts sich erhebt, und daß jene Illusion alles ist, worauf der Mensch seine Alltäg- lichkeit errichtet. “In der Angst vor dem Tode wird das Dasein vor es selbst gebracht als überant- wortet der unüberholbaren Möglichkeit. Das Man besorgt die Umkehrung dieser Angst in eine Furcht vor einem ankommenden Ereignis. Die als Furcht zweideutig gemachte Angst wird über- dies als Schwäche ausgegeben, die ein selbstsicheres Dasein nicht kennen darf.”4 Die Furcht ver- größert sich in dem Maße, als das eigene Leben im Verhältnis zum geschichtlichen Sein als un- vollkommen erlebt werden muß. Die tröstende und sinngebende Jenseitserwartung einer religiö- sen Einstellung ist der bedrohlichen Vision einer Zukunft gewichen, an welcher der einzelne nach seinem Tode keinen Anteil mehr erfährt. Der Tod wird als Tilgung aus der Geschichte begriffen. “Das zivilisierte, in den ‘Fortschritt’, in das Unendliche hineingestellte Leben dürfe seinem eigenen immanenten Sinn nach kein Ende haben (...). Denn es liegt ja immer noch ein weiter Fortschritt vor dem, der darin steht; niemand, der stirbt, steht auf der Höhe, welche in der Unendlichkeit liegt.”5

Eine Ahnung des Todes trifft unvermittelt den, der einen Ausstellungsraum von Mic Enneper betritt. In der Mitte seines Lebens ruft jener Künstler Assoziationen an den Tod hervor, an sei- nen eigenen und den der anderen; sein “memento mori” könnte bedeuten: “Vergiß nicht zu ster- ben!”6 Dem biologischen Tod mit dem Ende des Lebens wird ein symbolischer Tod inmitten des Lebens vorhergesetzt, gleichsam als eine Irritation und Störung seines gedankenlosen Flusses. Hier vertritt das Kunstwerk die Ebene des bildhaften Todes. Mic Enneper streift mit seinem Werk den Gedanken des zweifachen Todes, den jeder Mensch erleiden muß, den wirklichen biologi- schen und einen symbolischen, welcher gesellschaftlich durch den Bestattungsritus vollzogen wird. Das Bestatten trennt den Toten endgültig von den Lebenden, das steinerne Grabmal er- setzt metaphorisch die Zeit des Todes, es symbolisiert die Trennung, die Distanzierung der Hin- terbliebenen von ihrem Toten. “Trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tode scheuten die Alten die un- mittelbare Nachbarschaft der Toten und hielten sie abseits. Sie verehrten die Grabstätten. (...) Eines der Ziele der Grabkulte war es jedoch, die Verstorbenen daran zu hindern, wiederzukeh- ren und die Lebenden zu belästigen. Die Welt der Lebenden sollte von der der Toten geschie- den sein.”7 Der Ritus der Beerdigung schließt das Leben symbolisch ab. Die Idee des symboli- schen Todes ist nur dadurch möglich, daß auf einer Metaebene über Leben und Tod gedacht werden kann. “Der höchste Ausdruck der ‘Negativität’ des Geistes ist es, die Toten noch einmal zu begraben, ihre Spuren und ihre Zeugnisse im Text der Tradition zu beseitigen.”8

Mic Ennepers Inszenierungen basieren auf einer wiederholten Auseinandersetzung mit dem Tod und den Formen seiner Visualisierung. Der Künstler umkreist seinen eigenen Tod, als wolle er ihn mit seinem Leben umschließen und ihn dort heimisch werden lassen. Die vorzeitige Be- trachtung des Todes kann eine Einübung ins Sterben genannt werden, jedoch enthält sie auch die Absicht, in einer Voraussicht dem Tode jene Furcht zu nehmen, die seiner auf Beobachtung beruhenden Gewißheit beiwohnt. “Im Spiegel seines eigenen Todes entdeckte jeder Mensch das Geheimnis seiner Individualität.” In dem Moment, wo der Tod als Teil seiner Biographie begriffen wird, hat das Selbst seinen “eigenen Tod”9 erblickt.

II. Transit
“Transit” nennt Mic Enneper seine Werktrilogie, die sich aufeinanderfolgend über drei verschie- dene Ausstellungsorte erstreckt. Das lateinische Verb “transire” meint “hinübergehen”, die Silbe “trans” ein “hinüber, hindurch”, ein “jenseits des”, ein “darüber hinaus”.10 Der Titel “Transit” impli- ziert ein Hinübergehen im doppelten Sinne. Er zielt zum einen auf die beiden unsichtbaren Über- gangsstadien zwischen drei differenten Zuständen und Orten als ihre Stadien der Verwandlung. An verschiedenen Plätzen wird ein Kunstwerk in heterogenen Zuständen gezeigt, wobei sich jedoch seine Inhaltlichkeit und die Grundsubstanz des Stofflichen durchhält. “Transit” bedeutet die durchquerte Strecke zwischen den unterschiedlichen Orten gleich einem Verkehrsweg zweier Länder über ein Drittland als die “Transit-Strecke”. Damit ein Gegenstand an den jewei- ligen Stellen erscheinen kann, ist ein Verbindungsweg, ein Hinüberbringen vonnöten, das selbst in der Regel unbedacht und unbesehen bleibt. Mic Enneper benennt durch den Titel der Trilogie diesen blinden Zwischenraum der Bewegung, der Ortsveränderung als den eigentlichen virtuel- len Ereignisraum seines Kunstwerkes, jenen Ort “dazwischen”, den Akt des “Hinüber”, den Weg. “Transit” meint zum andern das Übergangsstadium zwischen drei verschiedenen Aggregat- zuständen jenes Kunstwerkes, das über den Ortswechsel auch seine sichtbare Form verändert,

ohne jedoch seinen immanenten Sinn zu verwandeln. Die atomare Struktur der Materie läßt sich in die drei Aggregatzustände fest, flüssig und gasförmig unterteilen, indem die einzelnen Atome eine zunehmend beweglichere Stellung zueinander einnehmen und denselben Stoff, doch in verschiedenen optisch wahrnehmbaren Erscheinungsweisen, bilden. Analog dieser Änderung der atomaren Gliederung einer Materie kann man von der Verwandlung der formalen Struktur des Kunstwerkes “Transit” sprechen: Mic Enneper läßt die Umformung einer monumentalen, “festen” Form in eine zerbrochene, “flüssige” geschehen, worauf ein Zerfall zu “gasförmigem” Staub erfolgt; die jeweiligen Projekte heißen “Lager 51°7’/7°2’ Nord-Ost”, “Eismeer” und “Auto- dafé”. Dies geschieht, indem die festen materiellen Körper des ersten Stadiums, des “Lager”, zersägt werden zu einem locker verbundenen zweiten Stadium, dem “Eismeer”, darauffolgend wird das Materal durch Verbrennen in Asche verwandelt, das “Autodafé”. Jene Asche hat sich zwar physikalisch in ihrer atomaren Struktur umgeformt, enthält jedoch wie ein Konzentrat die materielle Substanz seines Ursprungs. Der Titel “Transit” betont auch hier das Übergangsstadi- um, den Prozeß der Transformation, welcher zwischen jenen drei Stadien auftritt, diese zugleich verbindet und unterbricht.

Von einer anfänglichen Ordnungsstruktur ausgehend, vollzieht sich die Veränderung hin zu einer chaotischen Struktur; das Ebenmaß der künstlerischen Gestaltung löst sich zunehmend auf, hin zu einer minimal gestalteten Natürlichkeit. Die Ordnungsstruktur des “Lager” verwandelt sich in eine Massenstruktur der Trümmerschichten des “Eismeer”; “Autodafé” erscheint als ein zentriert geschütteter, ungestalter Ascheberg, eine Kegelform chaotisch verbundener Zufälligkeit. In sei- ner relativen Ungestaltetheit bildet dieser Kegel gleichwohl eine kompakte Form. Je geringer der künstlerische Eingriff erfolgt, desto dichter wirkt die Form als äußere Erscheinung. Der sichtba- re Charakter der “Transit”-Konzeption erweist sich als zunehmend natürlicher und weniger künstlerisch bestimmt, er scheint dem Chaosprinzip hin zur Entropie zu folgen, dem Maß für den mikrophysikalischen Zustand der Unordnung.

Gleichzeitig mit diesem Prozeß von einer Gliederung hin zur Auflösung, von der Gestaltung hin zu einer Zufälligkeit, lockert sich auch der konzeptuelle Bezug der jeweiligen Projekte zu ihrem direkten Umfeld, dem Ausstellungsraum. Während der erste Teil “Lager” genau für einen spe- ziellen Innenraum konzipiert wurde, bestehen bereits für das “Eismeer” keine berechneten for- malen Bezüge mehr, in einem anderen Raum ergäbe sich eine abweichende Anordnung der Fragmente; der Aschekegel indes könnte sich in seiner eigenspezifisch notwendigen Form an jeder Örtlichkeit auftürmen, da seine Gestalt allein das kausalbedingte Ergebnis des Schütt- vorgangs ist.

Wenngleich die materielle Substanz in Struktur und Form dem Prozeß des Zerfalls unterworfen ist, so bleibt ihre Essenz doch über alle drei Stadien erhalten. Gleichzeitig mit dem Akt des Hin- übergehens geschieht eine Handlung des Hinüberholens und Behaltens, die materiellen Be- standteile werden als Relikte, als Reliquien in den folgenden Zustand überführt, wobei der zweite Zustand auf den ersten verweist, der dritte als letzter die beiden vorhergehenden beinhaltet; die Transformation bedeutet ein fortwährendes Vergehen und Aufbewahren zugleich.

Nicht nur die Grundsubstanz bildet ein bleibendes Moment der Arbeit, sondern gleichsam mit ihr - als sei sie damit verbunden, als wohne in jener Materie eine ihr eigene Bestimmung inne - der

“Gehalt” des Kunstwerkes als seine inhaltliche Komponente. Alle drei Stationen umkreisen den Diskurs des Todes auf verschiedene Weise.
Thematisiert wird der Tod in einem zweifachen Sinne: In jeder Station scheinen jeweils ver- schiedene Aspekte des Inhaltsstoffes auf; indem jedoch das “Lager” selbst zum Objekt des Zer- störens und Verbrennens einerseits und zur aufbewahrten “Leiche” andererseits gerät, ist die gesamte Ausstellungstrilogie “Transit” als Allegorie des Sterbens zu begreifen. Der Aschekegel am Schluß des Projektes ist der Zusammenfall des allgemeinen Symbols mit dem Endstadium des transformierten Materials, er führt damit in doppelter Weise die Vernichtung vor.

Die Dekonstruktion seiner Raumprojekte ist ein durchgängiges Prinzip der Arbeiten Mic Enne- pers. Doch auch das Aufbewahren von Teilen seiner destruierten Werke, die er zu “Reliquien” erklärt, ihre Rückverwendung und Einbindung in eine neue ästhetische Form, ist ein wiederkeh- rendes Moment der letzten Jahre. “Durch die so aufbereitete Mitnahme eines ‘Schattens’ aus der Vergangenheit führen diese (-) Objekte eine bis zum Verehrungskult gesteigerte Selbst-Histori- sierung vor. In einem selbstreferentiellen Akt befruchtet sich die künstlerische Potenz durch Rückbezug auf sich selbst. Der Blick des Betrachters wird auf das Vergangene und Vergessene gelenkt, dessen Reste fragmentarisch die Zeit überdauern. Dem nicht Eingeweihten bleibt die Struktur dieses Auto-Kultes verborgen, doch ist ihm ebenso der Appell an das Erinnern spür- bar.”11

Die Konzeption “Transit” ist davon bestimmt, daß nicht nur Fragmente, sondern das gesamte Material des “Lager” der Bewahrung und Aufbereitung überführt werden. Dieser Prozeß der Zer- teilung und Konservierung findet in zweimaliger Weise statt, bis ein nicht mehr reduzierbarer Rest übriggleibt. Genau diese Transformation bedeutet eine “Sakrifizierung” des Materials durch “Transit”: Das Ursprungsmaterial - Hölzer und Leisten, Nägel und Schrauben, Pigment und Graphit - wird sich selbst zur Reliquie, indem es seine “Heiligung” durch eine neue künstlerische Aufbereitung erfährt. Der gesamte Ablauf der Trilogie ist ein Prozeß der Ritualisierung, eine Er- hebung profanen Materials in “Heiligkeit”. Das Heilige bezeichnet eine “qualitativ andere Wirk- lichkeit, an welcher der Mensch ebenso teilhat wie an der konkreten Realität.”12 Das Heilige ist ein transzendentaler Bereich, in welchem sich Herrlichkeit und Grauen vermischen als ihr tabui- sierter Ort, ihr Körper oder ihre Schrift. “Heilig heißt eine sich durch das Gefühl kundtuende ge- heimnisvolle Macht, vor der der Mensch erschauert und erzittert (gr.lat: mysterium tremendum), die ihn aber gleichzeitig beglückt und beseligt.”13 “Das Heilige selbst ist jenseits von Gut und Böse, hat allerdingst dort auch die Erscheinungsweise des Schrecklichen und Furchtbaren. (...) Das Heilige erweckt teilweise dem Tabubereich schon angehörende Gefühle im Menschen: Die Scheu vor einer psychischen wie konkreten Berührung von heiligen Gegenständen, die sie be- gleitende Vorstellung, daß jede Berührung außer durch eine bestimmte Mittlerperson verderb- lich ist. Es kann aber auch als das Beglückende, Begehrenswerte und zutiefst als erhabener Wert in Erscheinung treten. In jedem Fall wird es als unendliche Machtfülle erkannt. Alles Heilige strahlt etwas von dieser Machtfülle zurück. Deshalb sind besondere Weihen nötig, die Personen oder Dingen diese Heiligkeit verleihen. (...) Heilig kann buchstäblich alles sein, was zur numino- sen Macht in Beziehung gebracht wird, der Kosmos selber kann es sein, der Raum, bestimmte Orte, das Wasser in jeder Form, Berge, auch Tiere, Bäume, Pflanzen und Steine. Heilig können Menschen sein, ihre Handlungen und die dabei benutzte Sprache.”14 Durch das Ritual der Zer-

störung, Bewahrung und Aufbereitung erreicht es Mic Enneper im künstlerischen Kontext, “Heiligkeit” zu simulieren; seine Rauminszenierungen evozieren die Erinnerung an sakrale Orte, jene der Opferung und des Todes und jene der Aufbewahrung und der Verehrung. Der Bezug, zu welchem diese Heiligkeit gesetzt wird, ist nicht eine göttliche Macht oder eine religiöse Lehre, sondern die metaphysische Sphäre der Kunst als ein Ziel des transzendental-geistigen Strebens des Menschen; jenes Durchscheinen des Transzendentalen ist eine wesentliche Intention des Künstlers. “Die heiligen Stätten stellen die räumliche Dimension der Begegnung des Menschen mit dem Heiligen dar, dessen lokale Manifestation sie sind. Die heilige Stätte ist nicht willkürlich oder zufällig gewählt, sondern Ort der Kundgabe, d.h. Erscheinung und der Erfahrung von unpersönlicher Macht. (...) Zu unterscheiden sind natürliche heilige Stellen (...) und künstlich ge- schaffene (Umfriedungen wie Steinkreise und Allignements, Gräber, Feuerstellen, Häuser, Tem- pel, künstlich geschaffene Höhlen).(...) Heilige Stätten kennzeichnen den Ort besonderer Offen- barungen oder besonderer heilsträchtiger Erlebnisse; (...) häufig sind sie auch Opferbezirke. Immer aber stellen sie Übergänge dar von der sichtbaren erfahrbaren Wirklichkeitswelt zur unsichtbaren Überwirklichkeit.”15

III. Das Lager
“Die Wahrnehmung räumlicher Gebilde, von Skulptur und Architektur, unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der Wahrnehmung zweidimensionaler Kunstformen. Dreidimensio- nale Werke beziehen den Rezipienten in doppelter Weise als Betrachter und als “Begeher” ein. Mehr als bei der Bildwahrnehmung wird insbesondere an eine Fähigkeit appelliert: die topologi- sche Kompetenz. Mit diesem Begriff soll das im Rezipienten als körperliches Wesen verankerte Orientierungssystem bezeichnet werden, mit dem dieser den natürlichen ebenso wie den künst- lich - oder künstlerisch - gestalteten Raum als bedeutungstragenden Text erfaßt.”16
Die Trilogie “Transit” wird durch das raumbesetzende Projekt “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost” eröffnet. Seit 1987 realisiert Mic Enneper Projekte, die sich auf die spezifische räumliche Situation eines jeweiligen Ausstellungsortes beziehen, dabei bilden die Maße und Proportionen des Raumes die Vorgaben seiner Architekturen. Das Raumprojekt “Lager” ist eines jener Werke des Künstlers, die mit dem Begriff “Erfahrungsarchitektur” benannt werden können. “Es handelt sich um Gebil- de, die wie architektonische Räume aussehen, aber keine praktische Funktion haben. Ihr allei- niger Zweck ist es, dem Rezipienten zu neuen, nur auf diese Weise vermittelbaren ästhetischen Erfahrungen zu verhelfen.”17 Über ihre ästhetische Wirkung hinaus vermitteln diese Bauwerke vor allem ein räumliches Erlebnis. In ihre Konstruktion ist das Begehen und Ersuchen durch den Betrachter bereits eingedacht - dieser wird durch architektonische Mittel erst langsam zu dem inneren Punkt und “Geheimnis” des Kunstwerkes geleitet, jenes lockt, abgewandt von den ersten schnellen Blicken des eindringenden Besuchers, diesen durch die anziehende Wirkung seiner Uneinsehbarkeit erst langsam an sich heran. Mic Enneper teilt dem Besucher seines Pro- jektes “nichts weiter mit als eine Weisung auf das Geheimnis hin, ohne das Geheimnis jemals objektiv aussagen zu können. Das Geheimnis hat niemals eine totale Objektivität.”18
Der Raum wird von Mic Enneper teleologisch festgelegt als der Zielort per se seines künstleri- schen Projektes, als eine Isolierstation der Wahrnehmung. Der von dem Kunstwerk besetzte Raum ist ein der Welt abgewandter und zelebrierter Ort. Im Gegensatz jedoch zu seinen frühe- ren Arbeiten mit ihrer Umkehrung des Ausstellungsraumes zum Außenraum für einen wiederum

betretbaren oder zumindest von einer Seite einsehbaren Raumkörper, gelangt der Besucher des “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost” unmittelbar in dessen Inneres, die Wände des Raumes bilden zu- gleich seine nach innen gerichtete hermetische Begrenzung; das Kunstwerk hat keine äußere Form, die von außen her zu betrachten wäre. Die entscheidende Differenz des Projektes besteht darin, daß der eigentliche Ausstellungsraum seine objektive und neutrale Stellung verloren hat und Teil des Kunstwerkes geworden ist; Raum und “Lager” sind zu einer Einheit miteinander ver- schmolzen. Dieses Projekt ist kein “offenes” Kunstwerk, es implodiert als ein hermetisch auf sich selbst bezogenes Objekt, zu seiner Umgebung nimmt es keinen Bezug auf, der Raum als Raum wurde genichtet und zum “Lager” umformuliert.

An die wiederholt konzipierte Situation eines Raumes im Raum wird angeknüpft durch die Pla- zierung eines großformatigen Kubus im Zentrum des “Lager”, dessen Inneres wiederum nur von einem bestimmten Standort aus einsehbar ist. In ihm, und jeweils nur für einen Betrachter rezi- pierbar, liegt das “Geheimnis” verborgen, ein objekthaft formulierter Code, welcher der architekto- nisch vorgegebenen “Umgehungsschleife” ein interpretatives Pendant - gleichsam als Antwort - hinzufügt.19

Die Architekturen der konzipierten Räume Mic Ennepers beeindrucken durch ihre fast gewalt- same Größe und Monumentalität. Die Farbe schwarz wird hier vor allem als Mittel der Abstrak- tion eingesetzt; sie steigert die monolithische Wirkung der Objekte und verleiht den Baukörpern eine großzügige Formalisierung, die nicht durch andersfarbige Details gebrochen wird. Mic Ennepers Projekte zielen auf eine architektonische Wirkung, die an jene Erhabenheit gewaltiger Prachtgebäude und ideologisch oder religiös gefärbter Bauten erinnert. Die Nähe zu monumenta- ler Architektur setzt der Künstler bewußt ein, um eine manipulative Atmosphäre zu kreieren, wel- che auf den Besucher und Begeher jener Projekte psychologisch einwirkt. Die Inszenierung der Größe und Erhabenheit wird genutzt, um den Betrachter unbewußt auf eine möglichst große Wirkungsweise der Inhalte hin zu präparieren. Das sinnenhafte oder träumerische Verlangen des Menschen nach Größe und Unermeßlichkeit, nach Ausdehnung und Unendlichkeit bewirkt eine seelische Öffnung des Betrachters nach einer ereignishaften und ihn ergreifenden Sensation. “Die Unermeßlichkeit ist, könnte man sagen, eine philosophische Kategorie der Träumerei. Zweifellos nährt sich die Träumerei von verschiedenartigen Szenerien, aber sie hat gewisser- maßen eine angeborene Neigung für das Betrachten der Größe. Und die Betrachtung der Größe löst eine so besondere Haltung aus, eine so eigentümliche Stimmung, daß die Träumerei den Träumer aus seiner nächsten Umgebung hinaus in eine andere Welt versetzt, die das Merkmal einer Unendlichkeit trägt. (...) Da die Unermeßlichkeit kein Objekt ist, würde eine Phänomenolo- gie des Unermeßlichen ohne Umweg auf unser eigenes traum-schöpferisches Bewußtsein zurückverweisen. Bei der Analyse der Unermeßlichkeitsbilder würden wir in uns das reine Sein der reinen Einbildungskraft realisieren. Dann träte klar zutage, daß die Kunstwerke Nebenpro- dukte dieses Existenzialismus des imaginierenden Seins sind. Das eigentliche Produkt auf die- sem Wege der Unermeßlichkeitsträumerei ist das Bewußtsein des Größerwerdens. Wir fühlen uns zum Range eines bewundernden Wesens erhoben. Von da ab sind wir in dieser Meditation nicht mehr ‘in die Welt geworfen’, denn wir erschließen gewissermaßen die Welt, indem wir über die bisher bekannte Welt hinausgehen. Selbst wenn wir uns unseres eigenen kümmerlichen Seins bewußt sind, nehmen wir doch - durch die Auswirkung einer brutalen Dialektik - von der

Größe Kenntnis. (...) Die Unermeßlichkeit ist in uns. Sie ist mit einer Art Ausweitung des Seins verbunden, die vom Leben gezügelt, von der Vorsicht zurückgehalten wird, aber in der Einsam- keit die Oberhand gewinnt. “20

Betritt ein Besucher den Ausstellungsraum und damit das “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost”, sieht er sich umgeben von hoch aufragenden schwarz pigmentierten Kassettenwänden, von bis unter die Decke übereinandergeschichteten und nebeneinander gerasterten Nischen, mit denen die Wände des gesamten quadratischen Raumes ausgekleidet sind. Das Zentrum des Raumes wird von einem metallisch schimmernden kubischen Objekt beherrscht. Ein von diesem ausgehen- des Sirren verdrängt die kontemplative Stille rein visueller Kunstbetrachtung und läßt den Kubus als eine unheilvolle Maschine erscheinen, sein Brummen und Surren erweckt Neugierde nach dem Geheimnis jenes in schimmerndem Metallglanz gekleideten rätselvollen Objektes. Entlang seiner glatten Außenfront, zur anderen Seite jene schwarz pigmentierte Nischenwand, sucht der Begeher diesen Körper zu umrunden, um eine Öffnung zu finden, die eine Einsicht in das Ver- borgene ermöglicht. Schließlich gibt die offene hintere Seite des Kubus den Blick in seinen hoh- len Innenraum preis.

Ein aus schwarzem Gummi gefertigtes Förderband lauert in seinem gähnenden Schacht wie ein Tier in seinem Versteck. Die Laufrichtung des Bandes führt vom Betrachter weg, Dunkelheit ver- schluckt sein Ende. Die vom Standpunkt des Rezipienten ausgehende Bewegung des Bandes übt auf diesen einen Sog aus, der ihn in die Unendlichkeit des dunklen Nichts zu ziehen droht, in welche sein Laufen mündet. Obwohl der Betroffene den Kubus von außen umschritten hat, vermittelt ihm nun das auf eine undurchdringliche Finsternis weisende Innere den Eindruck einer endlos tiefen Schlucht. Genau ihn, der vor ihm steht, scheint das Laufband in dieses Nichts be- fördern zu wollen. Von diesem Augenblick an eröffnet sich dem Schauenden die Vision eines großen Grabmals, in dessen Inneres er unversehens geraten ist und dessen Bestimmung auch ihn zu meinen scheint. An einen verkleideten Sarkophag erinnert nun der Kubus im Innern des Raumes, an ein Heiligtum, in dessen Aushöhlung sich eine Opferstätte verbirgt - eine Stätte der Überführung und Vernichtung, in welche er selbst, der Betrachter, sich als mögliches Opfer mit einbezogen fühlt; ihm scheint ein Abtransport in jenen dunklen Schacht zu drohen. Als Folge die- ser Wirkung wird die Ausstellungssituation plötzlich als persönlich und gegenwärtig empfunden, die jeden ihrer Besucher mit einbezieht und mit seiner Drohung konfrontiert. Inhaltlich kanalisie- rend wirkt die beengende Hermetik des “Lager” mit seiner architektonisch vorgenommenen Steuerung des Begehers. Dieser gerät zu einem Probanden, in welchen die psychologische Wir- kung des Kunstwerkes eindringt; unversehens verliert der Beobachter seine vermeintlich neutrale Position und gerät zu einem Teilnehmer eines Versuches.

Das Raumprojekt “Lager” ist das dritte seiner Art; durch seinen Titel nimmt das Leverkusener Werk Bezug auf das 1991 in der Kölner Josef-Haubrich-Kunsthalle realisierte “Lager 50°56’/6°57’ Nord-Ost” und ein zweites für den Standort Genf konzipiertes, jedoch nicht realisiertes “Lager 46°13’/6°9’ Nord-Ost”. Dem Begriff liegt die Absicht inne, Erinnerungen an jene weit über Deutschland hinaus verteilte Orte der Kasernierung und Vernichtung von “Menschenmaterial” zu evozieren. Mic Enneper kristallisiert in jenem dritten “Lager” vor allem die inhaltliche Kompo- nente dieser Bezeichnung heraus; die dynamischen Formationen des Ineinanderschiebens und

Verkeilens von Raumkörpern der früheren Arbeiten sind zugunsten der konzipierten Ordnung mit ihrem eindringlichem Endgültigkeitscharakter verschwunden, die diagonale Bewegungsform ist einer vertikalen Statik gewichen. Stattdessen vollführt im Innern des Raumkubus das Förder- band seine unendliche Bewegung des Immergleichen, ohne etwas zu spedieren. Das Schlingern selbst dieses Laufbandes erscheint als eine Sisyphusbewegung, die nichts bewirkt und in ihrem unendlichen Gleichlauf der statischen Situation des Raumes nicht nachsteht.

In seiner Abgeschlossenheit scheint das “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost” fern von den herkömmli- chen Ort- und Zeitverhältnissen zu liegen: Die visuelle Aufbereitung der Wände evoziert Erinne- rungen an die Katakombengräber verfolgter Christen im antiken Rom. Die hier sich nach einem Regelmaß addierenden schwarzen Nischen scheinen der Größe leicht angewinkelter Skelette zu entsprechen, welche platzsparend in jenen raumhohen “Grabschränken” gelagert werden könnten. Das laufende Förderband ruft im Zusammenhang mit diesen “Grabnischen” Erinnerun- gen oder Assoziationen an die Stätten der Massenvernichtung, die Konzentrationslager, wach. Die imaginären Impulse des Betrachters pendeln zwischen Vernichtungslager und Katakomben hin und her, welche beide jene Stätten der Verfolgung, des Verbrechens, der Opfer und des mas- senhaft Getöteten repräsentieren. Während die Erinnerung an die historischen Christengräber deutlich durch die Nachempfindung der Nischen an den Wänden vorherbestimmt ist, stellen sich Assoziationen zu Vernichtungslagern durch die Atmosphäre des Raumes ein, ohne daß es eine optische Leitlinie gäbe.

Das Verbrechen ist als die Vernichtung des natürlichen Kreislaufes von Leben und Tod bestimmt. “Der natürliche Tod, der Tod im gewohnten, biologischen Sinne, ist nur ein Moment des Lebens- kreislaufes, der Verfall und Erneuerung, Gebären und Sterben in sich schließt. Durch diese stän- dige Bewegung der Umwandlung, durch den Verfall des Entstandenen und die gleichzeitige Geburt eines Neuen aus diesem Zerfallenen manifestiert die Natur ihre Schaffenskraft. Das Verbrechen ist die Zerstörung dieses Kreislaufes, die Vernichtung der Bewegung der Umwand- lung. (...) Hier haben wir also die zwei Tode: der eine ist der ‘natürliche Tod’, der Tod als ein Ele- ment des Lebenskreislaufes, ein Moment der ständigen Umwandlung, der Bewegung des Ver- falls und der Erneuerung, und der zweite ist der ‘absolute Tod’, der Tod als die Zerstörung des Kreislaufes selbst.”21

Während Christian Boltanski als Künstler jüdischer Abstammung das Gedächtnis eines ethni- schen Opferbewußtseins zur Sprache kommen läßt, nennt Enneper als deutscher Künstler die Ebene des Aggressors. Das Werk Boltanskis schafft durch eine symbolische Darstellung der Opfer von Macht und Gewalt eine Gefühlsebene der “zweiten” Tränen und des Leidens als ein Meta-Leiden. Dadurch evoziert er eine “nachträgliche Betroffenheit, die nicht als Schmerz über einen Verlust entsteht, sondern aus Erregung über den Gedanken an den Schmerz”.22 Ebenso thematisiert Mic Ennepers Arbeit nicht die Schuldigkeit eines Täter-Volkes, sondern sein “Lager” erklärt sich, weil es Tötungskammern gegeben hat. Durch Titel und Präsentation weist der Künstler subtil auf das historische Vermächtnis hin. Auf das deutsche Publikum wirken die ver- schiedenen “Lager” durch mentale Rückkopplung an das Archiv des kollektiven Bewußtseins einer generativ vererbten Schuld. Die Rückbildung von historischem Wissen über das Gewe- sene entlädt sich in einer latenten Empfänglichkeit für den Schrecken. Der künstlerische Raum

löscht durch seine Erhabenheit jedoch die Differenz von Schuldigen und Opfern aus, seine Wir- kung entfaltet sich nicht moralisch, sondern ästhetisch. Hier führt ein Pfad hindurch zwischen dem Verwischen sämtlicher Spuren einerseits und einer analytisch erklärbaren Rekonstruktion andererseits, die als die beiden Arten des Vergessens beschrieben werden: “(...) zum einen das Verwischen sämtlicher Spuren, so daß nichts erinnert werden kann; zum andern aber die ‘voll- ständige’ Erinnerung: die scheinbare Gewißheit, das Geschehen in und mit seiner Repräsenta- tion aufgegeben und erklärt zu haben. In beiderlei Weise wurde mit der ‘Endlösung’ verfahren; während einerseits die SS bemüht war, kein mögliches Belastungsmaterial zu hinterlassen, wäh- rend rechtsradikale Kreise noch immer die Existenz von Gaskammern bestreiten, ist ‘Auschwitz’ andererseits auf vielfache Weise erklärt worden - beispielsweise aus Angst vor der russischen Revolution heraus -, um das Kapitel über das ‘Dritte Reich’ abschließen und zu den Akten legen zu können. Doch jede Erklärung (...) würde von der Anklage des Ereignisses entlasten: Gegen eine solche Aufhebung wendet sich Lyotard, wenn er anmahnt, in keiner Darstellung den Rest des Undarstellbaren zu vergessen. Während sich auf der einen Seite so die Notwendigkeit der Darstellung ergibt, muß andererseits die Darstellung ihre eigenen Grenzen zeigen. Sie hat das ‘unvergeßlich Vergessene zu bergen’.”23 Sichtbar wird die Wahrheit einer Kunst, die nicht versucht, das Unsägliche auszusprechen, sondern die bekennt, daß etwas nicht gesagt werden kann. Die Ausdifferenzierung des Rechtssystems führt notwendig zu einer rein juristischen Definition von Opfern und Schuldigen. Im gleichen Maße jedoch, wie die Semiotiken symbolischer oder mythi- scher Verarbeitung des Verbrechens gelöscht werden, nehmen seine eigenen zeichenlosen Energien zu.

Mic Enneper ästhetisiert die Statik des Todes, wie sie in der Sepulkralarchitektur ihren Ausdruck findet; Grabmal und Grabstätte lassen sich gleichermaßen als formgebende Leitbilder für den Entwurf des “Lager” ausmachen. Erwähnenswert ist, “daß für die antike Denkweise das Grabmal - tumulus, sepulcrum, monumentum oder einfach loculus - größere Bedeutung hatte als der Raum, den es in Anspruch nahm und der semantisch weniger ergiebig war. Umgekehrt wertet die mittelalterliche Mentalität den geschlossenen Raum, der die Grabstätten in sich birgt, höher als das Grab selbst.”24 Das “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost” erinnert an eine Totenkammer, in deren Mitte sich in Form eines Sarkophages der Apparat des Opfertisches erhebt: das Grabmal ist eine Todesmaschine. Jenes Laufband scheint unaufhörliches “Menschenmaterial” ins Nichts beför- dern und dieses wesenlose Nichts ausgebreitet in den Nischen lagern zu wollen. Das Förder- instrument durchbricht die Atmosphäre der Erinnerung und Historisierung, jene Distanzierung durch die Geschichte. Die Katakomben von Rom gewähren ihrem Begeher eine “Aufsicht” aus der Jetztzeit, verbunden mit einem angenehmen Schauer des Grauens; der Besucher eines Kon- zentrationslagers verstummt betreten vor der dort vergegenwärtigten Grausamkeit mit der Er- leichterung, diese finstere Epoche der Vergangenheit zuschreiben zu können. In keinem dieser beiden Fälle muß sich der Beschauer direkt in seiner eigenen Person angesprochen fühlen. Jenes Laufband jedoch in Mic Ennepers “Mastaba” fixiert den Betrachter auf seine eigene Gegen- wart, es scheint ihn selbst zu meinen, auch ihn befördern und mit den Grauen der Vergangenheit in Zusammenhang bringen zu wollen. Der Betrachter selbst sieht sich mittels jenes unaufhörlich agierenden Gerätes direkt der massenhaften Vernichtung gegenübergestellt, einem massenhaf- ten anonymen Tode, der auch ihn erfassen wird. Vertikal zur Geschichte, zu ihren heraufziehenden

und vergehenden Generationen und ihren Ereignissen, wird die abgelaufene Zeit zum Massengrab aller Menschen, die sich in gnadenloser Namenlosigkeit verlieren; der Tod löscht alle Unterschei- dungen und jede Individualität, und kein Ausweg folgt dieser Erkenntnis. Bevor sich der Betrachter entscheiden kann, ob er involviert ist, hat ihn die Thematik bereits infiziert. Mit dieser Entdeckung wird der Rezipient unfreiwillig zum Teil des Kunstwerkes, indem dessen subtile Konditionierung, seine seelische Disposition zu manipulieren und einzubeziehen, aufgeht. Der persönliche Affekt des Betrachters ist die Antwort auf das absurde leere Laufen des Fließbandes, seine Sinnlosig- keit wird durch jene persönliche Betroffenheit ersetzt.

Hier spielt das Moment nekropolischer Erhabenheit, das dem Raumprojekt Mic Ennepers inne- wohnt, eine entscheidende Rolle für die ambivalente psychische Situation des Betrachters, der zwischen persönlicher Betroffenheit mit fast unwillkürlich versuchter Distanzierung und ästheti- schem Genuß schwankt25. “Jenes aber (das Gefühl des Erhabenen) eine Lust ist, welche nur in- directe entspringt, nämlich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkeren Ergießung derselben erzeugt wird, mithin also Rührung kein Spiel, sondern ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint. Daher es auch mit Reizen unvereinbar ist; und indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird, das Wohl- gefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust, als vielmehr Bewunderung oder Achtung ent- hält, d.i. negative Lust genannt zu werden verdient. (...) Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer (...) ergreift, ist bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirklich Furcht, sondern ein Versuch.”26

Den Betroffenen erfaßt eine dem Kunstwerk injizierte seelische Aggressivität, die nicht seinen Körper, sondern seinen Geist bedroht. Das Kunstwerk prozessiert derart auf sich selbst bezo- gen, daß keine reale physische Nötigung von ihm ausgeht; kein körperlich wirksamer Angriff bedroht und keine leibliche Versehrung schmerzt den Betrachter. Mic Enneper thematisiert nicht die Hinfälligkeit des Fleisches oder den Schmerz des Sterbens, nicht die Gewaltsamkeit des kör- perlichen Todes und nicht das Leid des Individuums. Er läßt den Tod aufscheinen als unaus- weichliches Schicksal des Menschen ohne die Tröstungen durch die Hoffnung auf ein Jenseits. Der Tod wird als ein Zustand begriffen, eine Stagnation in dem Endpunkt des Seins.

Die hier vorgestellte Problematik baut auf der westlichen Sichtweise des Todes auf in seiner Dualität von Körper und Geist. Während der Körper in den Kreislauf der Natur übergeht, bleibt dem Geist ohne Gott nur das Nichts als letzte “Station”. Der Tod wird absolut gesetzt außerhalb einer natürlichen Abfolge des Werdens und Vergehens. Ohne die Aussicht auf eine heilbringen- de Auferstehung bedeutet sein Erscheinen nicht einen Übergang, der zu durchlaufen wäre, eine Brücke zu einem Dahinter, sondern ein letztes Gemach am Ende des Weges ohne eine erlösen- de Tür. In dieser Ausweglosigkeit gerät der Tod selbst zu einem Depot, einem Lager, in welches das massenhaft Gestorbene eingeht. Der Tod wird als ein Endlager der Lebenden, ein Massen- grab, ein endlos statischer Zustand der Hoffnungslosigkeit interpretiert; das Laufband erscheint als sein Perpetuum Mobile zur Beförderung seiner “Ernte”, die eine vollkommene ist. “Dieser Sinnverlust und diese Ratlosigkeit prägen nicht nur die vielfältigen Formen der Todesverdrän- gung. Vielmehr prägen sie auch die heute postulierten und praktizierten Verfahren, den individu- ellen Tod zu bewältigen, wie tiefsinnig und menschenfreundlich sie auch sein mögen. Sollte es

überhaupt eine neue, im gesellschaftlichen Maßstabe überzeugende und wirksame Sinngebung des Todes geben können, so hätte sie, das läßt sich ganz apodiktisch sagen, von einer durch nichts verstellten Erfahrung seiner Sinnlosigkeit auszugehen.”27 Die christlich vorgestellte Hölle wird als ein Bereich unaufhörlicher körperlicher Qualen geschildert; das hier demonstrierte Nichts des Todes dagegen ist körperlos und affiziert ein substanzloses Grauen des Geistes der Lebenden. Das Entsetzen wird durch die Unvorstellbarkeit des Nichts ausgelöst, das daher selbst nicht dar- gestellt werden kann. Mic Enneper provoziert mit seinem Projekt “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost” lediglich die Voraussetzung dafür, den Salto mortale des Geistes über den tödlichen Abgrund auszulösen.

IV. Das Eismeer
Die zweite Station der Trilogie “Transit” nennt Mic Enneper “Eismeer”; Bezeichnung und Visuali- sierung verweisen auf das Gemälde von Caspar David Friedrich, das auch unter dem Titel “Die gescheiterte Hoffnung” bekannt ist. Das romantische Werk führt einen Schiffbruch vor, welcher von den Massen des Eises zur Erstarrung gebracht wurde. Ungewöhnlich an der Interpretation dieses Genres der Malerei ist, daß nicht die Gefahr des Sinkens, nicht die Seenot der Seeleute und nicht das Entsetzen der Zuschauer am Ufer zur Darstellung gebracht wurde, sondern jener festgehaltene, in Eis konservierte und erstarrte Moment des Scheiterns selbst. “Ein Schiff unter sich begrabend und wie Granittrümmer übereinandergeschoben und in den Himmel getürmt, formt sich aus dem brechenden und splitternden Eis das jähe Bild eines gleichsam gestürzten Denk- mals, eine zugespitzte Inversionsform, die Friedrich durch das eisige Blau der fernen Polarland- schaft zu dramatischer Wirkung steigert.”28 Das in Weißtönen gehaltene Bild verwandelt Mic Enneper in ein “negatives”, schwarzes “Eismeer”, das im Berliner Ausstellungsraum Haus am Waldsee wie auf einer dreidimensionalen Bühne arrangiert ist. Sichtbar sind die geschwärzten und graphit- glänzenden “Schollen” des vorhergegangenen, gebrochenen und “versenkten” Kunstwerkes, des “Lagers”: Evoziert wird die Situation des Schiffbruches - doch ohne Schiff. Allein die zerborstenen und aufgetürmten, ineinander verkeilten Fragmente genügen, das Friedrich-Gemälde mit all sei- nen Deutungen vor dem geistigen Auge erstehen zu lassen: “Die gescheiterte Hoffnung” als ein Bild der Ausweglosigkeit. Kein Rettungsschiff naht den Verunglückten wie in dem Gemälde “Das Floß der Medusa” von Théodore Géricault; dieser zeigte während der bourbonischen Restauration einen Schiffbruch, “dessen Horizont ganz und gar politisch, konkrete Utopie ist”.29 Im Gegensatz dazu visualisiert die spätromantische Eislandschaft Friedrichs die gestoppte Bewegung einer Seefahrt, deren Wagnis in statischer Kälte und Unbeweglichkeit zerbarst. Das zu bizarren Formen Zerbrochene symbolisiert sein bitteres Ende als ein Versagen aller menschlichen Bemühungen in der “Seefahrt” des Lebens schlechthin: “Die gescheiterte Hoffnung” besiegelt eine endgültige Niederlage. Mic Enneper nennt dieses Scheitern nicht bei seinem Namen, er beläßt es bei dem Verweis des Titels “Eismeer”, das dem Kunstinteressierten als Synonym für “Die gescheiterte Hoffnung” bekannt ist; das Aufschichten der Fragmentteile genügt, um die gesamte Bedeutungs- ebene des Friedrich-Bildes auf sich zu übertragen. Der Künstler darf hier auf die allgemeine Bekanntheit des Gemäldes rechnen; ohne sich dessen bewußt zu sein, lädt der Betrachter das Projekt “Eismeer” mit seinen kunsthistorischen Kenntnissen auf. Das Gesamt der aufgeschich- teten und einander begrabend hochragenden Bruchstücke fungiert lediglich als eine Vorgabe, die andeutet, was der Betrachter imaginativ ergänzt; ihm erscheint die volle Bedeutungsebene

der Schiffbruch-Metapher: “Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im Ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Meta- phorik der gewagten Seefahrt zu begreifen. (...) Zwei Voraussetzungen bestimmen vor allem die Bedeutungslast der Metaphorik von Seefahrt und Schiffbruch: einmal das Meer als naturge- gebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen und zum anderen seine Dämo- nisierung als Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit, Orientierungswidrigkeit.”30 Der Metaphorik des Scheiterns ist in der Regel die Position eines unbeteiligten, jedoch voyeuristi- schen Zuschauers beigesellt, welcher den Schiffbruch des Seefahrers zu einem Schauspiel per- vertiert. “Der Schiffbruch ist in diesem Vorstellungsfeld so etwas wie die legitime Konsequenz der Seefahrt, der glücklich erreichte Hafen oder die heitere Meeresstille nur der trügerische As- pekt einer so tiefen Fragwürdigkeit. Die Kontraposition von festem Land und unstetem Meer als die für das Paradox der Daseinsmetaphorik leitende Schematik läßt aber erwarten, daß es als Steigerung der Vorstellungen von Meeresstürmen und Untergängen noch die eine, gleichsam pointierte Konfiguration geben müsse, in der dem Schiffbruch auf dem Meere der unbetroffene Zuschauer auf dem festen Lande zugeordnet wird. Diese Konvergenz konnte (...) ihr Ärgernis nicht verfehlen, wenn sie den unbetroffenen Zuschauer als den kulturkritisch oder gar ästhetisch seine Distanz zum Unmäßigen befriedigt oder gar genießend zur Kenntnis nehmenden Typus gelten ließ.”31 In seiner offen dargelegten Thematik des Scheiterns drängt Mic Enneper den Zu- schauer aus dem Bilde in den Betrachterraum; der Rezipient des Kunstwerkes ist zugleich Augenzeuge der geschilderten Katastrophe. Dem Topos gemäß - “Schiffbruch mit Zuschauer” - findet sich der Betrachter des “Eismeeres”, wie zuvor jener des “Lagers”, überraschend als un- beabsichtigt agierendes Element der Szene wieder.

V. Autodafé
Der Begriff “Autodafé” bezeichnet einen Akt des Glaubens, den “actus fidei”; im Spanien der Inquisition wurde mit dieser Vokabel die Verbrennung verbotener Bücher als auch jene der diese verbreitenden Menschen, der Ketzer, benannt.32 Das Verbrennen galt als ein Akt der Reinigung von Schuld, die Asche des Verbrannten als getilgt von Sünde.
Einen Akt des Glaubens bedeutet für Mic Enneper die Kunst, ein immer neues Streben des Geistes; der Künstler benutzt den Titel “Autodafé” für den dritten Teil seines Projektes “Transit”: Ein kreisrund geformter Kegel aus grober schwarzer Asche liegt aufgehäuft in der Mitte des Mannheimer Raumes, es ist die Asche des zum “Eismeer” gebrochenen und später vollständig verbrannten Materials des “Lager 51°2’/7°2’ Nord-Ost”. Kleine verkohlte Holzfragmente und rußge- schwärzte verbogene Nägel, vermischt mit der zu schwarzer Asche verglühten Masse, zeugen von einem vorausgegangenen langen und vernichtenden Brand des Baumaterials. Gleichsam bildet die Asche das Konzentrat, den materiellen Extrakt des “Lager”.
Der Kegel als eine Gestalt aus angehäufter Materie assoziiert archäologische Spuren längst ver- gangener Kulte, ihm haftet der Eindruck angesammelter Zeit und verwitterter Substanz an; auch das Rieseln des Sandes ergibt seine Form im Stundenglas, jenes versinnbildlicht die abgelau- fene Zeit des Lebens. Als symbolische Form der Vergänglichkeit verleiht der Kegel auch in dem Projekt “Autodafé” einen von der Ahnung des Todes beschwerten Charakter.
Das formale Element jener Haufenform als das physikalisch notwendige Ergebnis einer Schüttung oder Anhäufung ist innerhalb des Enneper-Oeuvres bekannt aus seinen früheren

Arbeiten; in der Natur südlicher Landschaften schuf der Künstler spitz zulaufende Gebilde durch das Aufschichten von Steinen. Hier wie dort ergab sich aus der Summierung von auf einen Punkt konzentrierter Materie eine Form, die sich notwenig nach unten hin verbreitert: der Kegel. “Seine Kegel und Türme entstehen aus Steinen, die in der vorgefundenen Form verarbeitet werden. Da der Künstler seine Bauwerke nicht durch Mörtel stabilisiert, hat er sich Kenntnisse der Bautech- nik, der Statik - wenn auch in allereinfachster Art - aneignen müssen. (...) Runde Steine erfor- dern eine andere Bautechnik als schroffe, kantige Steine, formen zudem einen anderen Turm- Typ. (...) (Die Zufalls-Betrachter) sehen rätselhafte Gebilde, deren Nutzen und Daseins-Funktion nicht einsehbar sind. Und gerade diese Unmöglichkeit einer Lösung animiert die Phantasie weit- reichend, läßt die Beobachter dieser Türme und Stein-Bauten von den gesehenen Dingen nicht mehr loskommen.”33 Aus veränderter Stofflichkeit gebildet und in verkleinerter Form wird das Zeichen als ein Element der späteren Raumprojekte wiederholt. “In allen Arbeiten auch der frü- heren Jahre tauchen immer wieder der Kegel und die Pyramide auf, ob zum Steinberg aufge- schichtet oder aus Metall gegossen. Kegel und Pyramide gehören zu den Körpergrundformen, sind sozusagen Symbol des gestalterischen Urtriebes im Menschen, seines Ausdruckverlan- gens und des Bedürfnisses, Orte symbolisch zu besetzen.”34 Die mythisch anmutende Form tritt als Bedeutungsträger auf in der Werktrilogie “Der Schatten - Die Nacht - Das Projekt” in den un- terirdischen Wehrgängen des Kölnischen Fort X: In drei verschiedenen Installationen erscheint das Zeichen als ein zunehmend autonomes semiotisches Element: Hier erwachsen zunächst drei hohe Kegel dem Rücken einer am Boden kauernden Abgußfigur, auffällig ist “ihr eingeä- scherter, vulkanisierter Zustand, eine federnartig aufgeflockte Haut, verhärtet und versteinert, wie ein zu lange ausgetragenes Kind.”35 Im zweiten Gang führen drei silbrig pigmentierte Beton- kegel, in rhythmischem Abstand lockend, zu einer stehenden Figur; Zeichen und Körper sind je- doch nunmehr durch einen schmalen Sehschlitz mit den Augen wahrnehmbar. Drei Metallkegel sind im dritten Schacht auf einem schimmelbewachsenen steinernen Sarkophag posiert, ihre sil- bernen Formen in einer schwarzen Flüssigkeit spiegelnd, weit entfernt von einem Körper, der sich scheu vor Blicken hinter einer Wand verbirgt. Jene Triade silbrig schimmernder Kegel begeg- nen auch dem Besucher der Rauminszenierung “Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material I”, die Mic Enneper 1987 in der Galerie Dietmar Werle inszenierte, als Innenelemente des Raum- körpers: “In seiner alten Erscheinung als Metallkegel, ein Wiedererkennen also beabsichtigend, nimmt das Symbol für sich den in seiner Weite unendlich scheinenden Raum in Anspruch, in dem es, unabhängig vom äußeren, umgebenden Raum, seine gespeicherten Energien entfaltet.”36 In einem weiteren gleichnamigen Projekt kehrt das Symbol 1988 wieder als schlanke Pyramide mit abgeschnittener Spitze in einem Ausstellungsraum der Baden-Badener Kunsthalle. Schließlich trifft 1991 der Besucher des Projektes “Lager 50°56’/ 6°57’ Nord-Ost” in der Kunsthalle Köln auf jene verletzend spitzen Objekte, welche die Innenwände eines graphitglänzenden Kubus besetzen.

Die Asche bildet das Schlußprodukt des zu Ende transformierten Materials, sie selbst symboli- siert das Letzte aller Dinge. Trotz ihrer zweimaligen Verwandlung hat die Konzeption “Transit” ihren tiefgehenden Sinngehalt nicht eingebüßt. Dem oxidierten Substrat begegnet der Suchende in der - “Asche zu Asche” - Totenasche, dem auf das letzte Konzentrat minimierte “Relikt” eines Verstorbenen. Die “heilige Asche” bildet den nicht weiter reduzierbaren “Rest” des Genichteten, der alles enthält - und nichts.

Die dunkle Substanz ist in ihrer stofflichen Wirkung verwandt dem schwarzen Pigment, dem Graphit und dem Kohlenstaub, jenen Materialien, die Mic Enneper in seinen Werken als alleinige Färbemittel verwendet. Gleichwohl bedeuten sie weniger Farbe, als eine Farbtemperatur, eine Körperlichkeit mit eigener Wärmeenergie. Kohlenstaub, Graphit und Asche entfalten als natur- belassene, pulverige Substanzen ihre Semantik einer nicht definierten Farbigkeit des Dunkels, das die Griechen “kyanos” nannten, blau: “Für sie war Blau keine Farbe in unserem Sinne, son- dern die Eigenschaft der Dunkelheit, gleichgültig ob sie Haar, Wolken oder Erde beschrieben.”37 Mic Enneper wählt jene Farbigkeit des Obskuren, des Dunklen, in das er seine Geheimnisträger eintaucht und ihnen einen körperhaften Mantel des Nächtlichen und der Verborgenheit verleiht. “Autodafé” bedeutet die Asche einer niedergebrannten Energie der Verwandlung, welche “Lager” und “Eismeer” gleichsam als deren “prima materia” enthält. Verteilt in Urnen könnte die Asche hinein in die Nischen des “Lager” gestellt werden, aus welchem sie selbst entstand. So schlös- se sich dem Imaginierenden die Abfolge “Transit” zu einem endlosen Kreislauf der Tödlichkeit.

“Diese Seele, diesen Schatten, diesen Lärm eines Schattens, der (...) seine Einheit will, hört man von außen, ohne die Gewißheit zu haben, daß er irgendwo drinnen ist. In diesem ‘fürchterlichen Drinnen-und-Draußen’ der nichtartikulierten Worte, der unvollendeten Daseinsabsichten, verar- beitet das Wesen in seinem Innern langsam sein Nichts. Seine Nichtswerdung wird ‘jahrhun- dertelang’ dauern. Das Getöse der Daseinsgerüchte erstreckt sich im Raum und in der Zeit. Ver- gebens spannt die Seele ihre letzten Kräfte an, sie ist ein Wogengang des endenden Seins geworden. Das Sein ist abwechselnd Verdichtung, die sich zerstreut, indem sie zerplatzt, und Zerstreuung, die wieder zu einem Zentrum zurückfließt. Das Draußen und das Drinnen sind zwei Innerlichkeiten; sie sind immer bereit, umzuschlagen, ihre Feindlichkeit auszutauschen. Wenn es eine Grenzfläche zwischen einem solchen Drinnen und einem solchen Draußen gibt, so ist diese Grenzfläche auf beiden Seiten schmerzhaft. (...) Der zentrale Punkt des ‘Da-Seins’ schwankt und bebt. Der innere Raum verliert jede Klarheit. Der äußere Raum verliert seine Leere, dieser Stoff der Daseinsmöglichkeit -: wir sind aus dem Reich der Möglichkeit verbannt.”

Anmerkungen:

  1. 1  Philippe Ariès: Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1981, S. 142
  2. 2  Andreas Gryphius, Werke in einem Band, Berlin und Weimar, 1980, daraus: Abend, S. 22
  3. 3  Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1989; S. 257
  4. 4  dito, S. 254

5 Johannes Weiß: Der Fortschritt und der Tod, in: Das Bild vom Tod; Graphiksammlung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Recklinghausen 1992, Zitat von Max Weber, S. 57
6 Slavoj Zizek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 199, S. 69

  1. 7  Ariès, a. a. O., S. 25
  2. 8  Zizek, S. 7
  3. 9  Ariès, S. 42

10 Fremdwörterlexikon, hrsg. von Gerhard Wahig, Gütersloh 1979, S. 653
11 Claudia Schink: Schwarze Strahlung - Reflexionen zu den Raumarbeiten Mic Ennepers, in: Katalog Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln, 1991; S. 15

12 Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988; S. 462
13 Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von Heinrich Schmidt, Stuttgart, 1978, S. 266
14 Wö.d.Chr., S. 462
15 Wö.d.Chr., S. 469
16 Felix Thürlemann: Vom Bild zum Raum, Beiträge zu einer semiotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990, S. 143
17 Thürlemann, S. 141
18 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt a. M., 1987, S. 39
19 zur Thematik des Raumes bei Mic Enneper siehe Schink, a.a.O., S. 10 ff
20 Bachelard, S. 186 f
21 Zizek, S. 73
22 Gert Mattenklott: Trauerkunst in Washington und Jerusalem, in: Merkur - Das Erhabene nach dem Faschismus, hrsg. von K.H. Bohrer, Bd. 487/488, 1989, S. 861
23 Uwe Bernhardt: Die Kehrseite des abendländischen Geistes - Über Lyotards Versuch,

Auschwitz zu denken, in: Merkur, a.a.O., S. 931
24 Ariès; S. 28
25 zur Thematik des Erhabenen bei Mic Enneper siehe Schink, a.a.O., S. 13
26 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1974, S. 88 f
27 Weiß, S. 59 f
28 Monika Steinhauser: Im Bild des Erhabenen, in: Merkur, a.a.O., S. 824
29 dito, S. 825
30 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer - Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt a. M. 1979, S. 9 f
31 dito, S. 12
32 FWLexikon, S. 73
33 Walter Vitt: Michael Ennepers Landschafts-Eingriffe, in: Progetto d’arte, Nr. 3, hrsg. von Mic Enneper und Walter Vitt, Köln 1980
34 Juliane Schulze: Mic Enneper, Der Schatten - Die Konstruktion - Das Material III, Katalog Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 1988
35 Rainer Braxmaier, in: Progetto d’arte, Nr. 5, hrsg. von Mic Enneper, Köln 1984
36 Schulze, a.a.O.
37 Arthur Zajonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Reinbeck, 1994, S. 28 38 Bachelard, S. 216