Katalogtext: CONTAINER

I

Der Container ist eine Bezeichnung für einen Leerbehälter, der angefüllt werden kann; das potentiell darin Enthaltene verleiht ihm seine Funktion. Der hohle Körper erfüllt den Zweck, anderen Objekten einen bergenden Umraum zu geben; er verdeckt das Unterscheidbare mit seiner Gestalt der seriellen Gleichheit. Der Container beseitigt die chaotische Vielfalt der Dinge und zeigt statt ihrer eine äußere Form der Ordnung.

Den Begriff nutzt der Künstler Mic Enneper als Bezeichnung für eine Präsentation seiner Werke, bei der verschiedene Arbeitsweisen, Materialien und Werkserien ohne eine chronologische Ordnung ein gemeinsames Ausstellungskonzept bilden. Das Skulpturenmuseum Marl zeigte 2009 mit „Container I“ eine umfassende Retrospektive des Künstlers, welche das zeitliche Nacheinander aufhob und eine neue Konstellation verschiedener Werkaspekte nebeneinander ermöglichte.

„Container II“ nennt Mic Enneper die Präsentationen seiner Künstlerbücher in den Räumen des Museums Burg Wissem in Troisdorf und darauffolgend in der Kunst- und Museumsbibliothek Köln. Die von ihm gestalteten Buchobjekte aus über zwanzig Jahren stellt der Künstler als ein Archiv vor, das mehr beinhaltet als reine Buchkunst. Im Gedächtnis eines jeden agieren eigene Erlebnisse und historische Geschehnisse als fokussierte Momente nicht chronologisch hintereinander, sondern sie verzahnen sich zu neuen Kompositionen mit je eigenen Präferenzen. In den Ausstellungen lagern visuelle Erinnerungen und haptische Lebensrelikte des Künstlers verstreut und scheinbar ungeordnet nebeneinander wie in einem Container.

Mit der Präsentation seiner Werkbücher und Collagen unterwirft Mic Enneper die vorgegebenen Räumlichkeiten einer künstlerischen Inszenierung. In den Sälen des Museums Burg Wissem überrascht der Künstler mit einer begehbaren Installation, deren räumliche Fundamente rohe Werkpaletten und unbehandelte Holztafeln bilden. Schräg gestellte, flexible Wände und am Boden lagernde Aufbauten gestalten eng gefasste Wege durch drei Räume. Diese architektonischen Eingriffe verleihen den Sälen eine andere Ausrichtung und lenken die Wege und Blicke der Betrachter. Der neu definierte Raum wird auf diese Weise zum wesentlichen Bestandteil der Installation; er bildet den architektonischen Rahmen für die arrangierten Behältnisse und wird damit selbst zu einem Container. Das dramaturgisch angelegte Szenario dient als Forum für die Präsentation der Künstlerbücher, Objekte und anderer Artefakte aus dem Oeuvre des Künstlers.

Dem Transportwesen entnommene Rohpaletten bilden optionale Träger für Gegenstände; sie sind stapelbare, für verschiedene Zwecke einsetzbare Plattformen – sie bilden Variablen. Die genormten Objekte sind als uniforme Massenware austauschbar, da alle einander gleichen; Paletten sind fremdbestimmte Duplikate, schmucklos und funktional; ihnen fehlt der Eigenzweck. In der Ausstellung erhalten sie die Funktion des Sockels, indem sie schlicht gestaltete Schaukästen und deren Inhalte erhöhen. An ausgewählten Stellen sind hinter Glas Papierarbeiten angebracht, bearbeitete transparente Architekturbögen, welche den Fokus auf das räumliche Denken des Künstlers unterstreichen.

Die auf den Paletten lagernden und so ins Blickfeld erhobenen Vitrinen bilden Schaubehälter, in denen Werkauszüge neben Privatgegenständen des Künstlers wie kostbarer Schmuck unter Glas verschlossen zu betrachten sind. Einblicke in die künstlerische Arbeit werden so ausschnitthaft ermöglicht. In ihnen liegen Elemente verschiedener Werkgruppen nebeneinander; unterschiedliche Objekte und Materialien, auch Fotografien aus verschiedenen Zeiten finden zueinander und bilden neue Sinnzusammenhänge. Der Aufreihung liegt kein strenges System zugrunde, keine chronologisch ordnende Hand hat die Elemente systematisiert. Das Neben- und Miteinander verschiedener Dinge, Zeichnungen und Dokumente aus fernen und nahen Zeiten bilden eine vierdimensionale Collage; diese wird geformt durch den spezifischen Blick des Künstlers auf seine eigene Existenz.

Künstlerbücher, Einzelobjekte und Fotografien bilden die Hauptexponate der Präsentation, deren Auswahl Modellcharakter besitzt. Hinzu fügen sich Dokumente von realisierten Projekten und verschiedene Gegenstände, die entweder auf einen vergangenen Kunstprozess verweisen oder eigenständigen Charakter besitzen. Manche Objekte, wie ein Metallzylinder, eine Graphitkugel oder eine Koralle, sind aufgelesene Fundstücke, die um ihrer Eigenform willen betrachtet werden wollen.

Das Exponat einer fragilen Gerüstkonstruktion im Zentrum der Präsentation ist das zuletzt gebaute Modell Mic Ennepers aus einer umfassenden Serie dreidimensionaler Objekte, die das architektonische Bauen als einen künstlerischen Akt hervorheben. Wie Palletten und Container zielen die dem Gerüstbau entstammenden Metallverstrebungen auf die Rezeption genormter Massenware durch den künstlerischen Prozess. Das Werk entstammt der Serie der „Laboratorien“, in denen Mic Enneper die Erfahrungen mit der räumlichen Dimension durch spezifische Eingriffe aufspürt und erweitert; die dabei auftretenden Manipulationen werden als „Versuchsreihen“ bezeichnet.

Auch in der Kunst- und Museumsbibliothek der Stadt Köln gilt die Präsentation der Ausstellung nicht nur dem Buch, sondern ebenso dem Raum. Die Sammlung beherbergt eine große Anzahl von Kunstbänden und Künstlerkatalogen; die Archivierung dieses umfassenden Bestandes erstreckt sich bis in den Treppenaufgang hinaus. Hier stehen in gläsernen Buchschränken bibliophile Schätze und viele seltene Exemplare, deren Buchrücken interessierte Besucher betrachten können.  Mic Enneper hat das gesamte im Treppenhaus gelagerte Archiv in die Präsentation seiner Künstlerbücher mit einbezogen. Die Glasscheiben der Bücherschränke wurden mit halbtransparenter Kalkfarbe geweißt, diese lässt nur noch die Farben der Buchrücken durchscheinen. Hinter den mattweißen Flächen schimmern vielfache verschwommene Farbnuancen, so dass Malerei entsteht.

Einzelne Buchrücken sind nun allenfalls erahnbar, ihre Namen und Titel unlesbar geworden. Was vorher sichtbar war, ist nun verborgen. Der gesamte Buchbestand des Treppenhauses wurde so zu einem verschlossenen Objekt und ist nicht nur anschaulich Teil der Präsentation geworden; Mic Enneper hat ihn auch inhaltlich neu definiert als ein farblich ineinander greifendes, anonymisiertes Archiv. Der Künstler tilgt mit diesem Eingriff vorübergehend die Vielzahl einzelner Künstlernamen zu einer Gemeinschaft. Auf diese Art laboriert er in doppelter Weise mit dem Präsenzbestand der Bibliothek; sie wird einerseits Teil seiner Inszenierung und zugleich ihr namenloses Umfeld.

Der malerische Eingriff verleiht dem Treppenhaus eine andere Gewichtung; das geweißte Bücherarchiv wird auf diese Weise zum wesentlichen Bestandteil der Installation; die Schränke werden damit ebenfalls zu Containern, deren Inhalte nur noch erahnbar sind. In ihrer Verschlossenheit erhalten sie eine architektonische Präsenz und bilden so den äußeren Rahmen für die vom Künstler gestalteten Vitrinen.

Die weiß gefärbten Scheiben der Bücherschränke erscheinen wie von Raureif bedeckt; die darin eingeschlossenen Bücher wirken vereist. Hier knüpft der Künstler an seine Werkserie „Eismeer“ an, die er als eine materielle Transformation seiner Kunstobjekte definiert, welche durch mehrmalige Verwendung, Bearbeitung und Zerstörung verschiedene Aggregatzustände erreichen. Das Eis bildet den Zustand der Erstarrung, eines temporären Stillstandes. Im gegenüber gelegenen Römisch-Germanischen Museum zeigte Mic Enneper im Jahr 1996 seine umfassende Werkschau „Eismeer“. Die großen Wachsarbeiten wurden dort inmitten der antiken Sammlung präsentiert. Einen kleineren Block aus dieser Werkserie hat der Künstler in eine Schauvitrine der Bibliothek  gelagert; dieses Wandobjekt, ein in Paraffin gegossenes Relikt einer zerstörten Raumarbeit, verharrt nun in einem Schwebezustand  inmitten der wie von Frost behauchten Nebelschränke.

 

II

Die Präsentation des  Künstlerbuches erscheint als ein Widerspruch in sich. Das Seite um Seite sich nur langsam erschließende Werk wird individuell rezipiert und enthält keine allgemeine Information; sein intimer Charakter richtet sich an einen solitären Betrachter. Ein Buch ist nur je einem Beschauer zugewandt; keine größere Gruppe kann es zugleich entdecken. Diese Besonderheit schließt an viele Ausstellungen des Künstlers an, bei denen situative Eingriffe in den Raum einen Einzelbetrachter erfordern.

Die unter Glas versiegelten Bücher bleiben weitgehend verschlossen und die Informationen über deren Inhalte sind dementsprechend gering; fotografische Abbilder einzelner Blätter verweisen nur manchmal auf die verborgenen Seiten. Die sich einer leichten Vereinnahmung entziehenden Auslagen verschaffen dem Blick in die Vitrinen einen intimen Aspekt. Angelegt nach der Art einer Collage gestaltet die Zusammenstellung der Objekte neue Relationen zwischen den Exponaten und dem Künstler. Diese Präsentation entfaltet darum einen persönlicheren Charakter als jede bisherige Ausstellung Mic Ennepers.

Auf privaten Reisen durch verschiedene kanarische Landschaften entstanden über einen langen Zeitraum hinweg  Aquarellbücher, in denen die gebirgigen Formationen der Inseln malerisch erfasst werden. Andere Bücher enthalten Collagen aus farbigem Papier, Arbeitsplänen und architektonischen Transparenten. Verschiedene Publikationen werden zusammen mit Fotografien und Objekten präsentiert. Die Exponate erscheinen als eine facettenreiche Bestandsaufnahme sehr unterschiedlicher Werkblöcke und Lebensphasen. Allein die Einbände der Bücher verweisen auf ihren gemeinsamen Urheber und  bilden deren Bindeglied.

Die Biographie ist das Anwachsen der Zeit zu einer persönlichen Lebensspanne; eine Anhäufung von Erinnerungen unter Niederhaltung des Vergessenen. Richtungswechsel werden durch Zufallsfaktoren und äußere Bedingungen ausgelöst; parallele Ereignisse führen zu multiplen Gestaltungen und gelebter Gleichzeitigkeit. Die Formung der „Persönlichkeit“ und des „Lebenswerkes“ löst sich aus der Enge von Bestimmungen und Zuschreibungen; sie entwindet sich Engpässen und Sackgassen hin zu scheinbar schlüssigen Routen. Die Ungewissheit des Zukünftigen, die Verzerrung und das Verblassen des Vergangenen sowie das Ausschnitthafte und die Begrenztheit der Gegenwart lassen die Biographie als eine unsichere Behauptung dastehen. Sie ist einem ständigen Wandel unterworfen und entbehrt einer festen Größe oder bestimmten Form. Auch Persönlichkeit ist eine Collage als ein vielschichtiges Kaleidoskop. Die Historie legt Personen eine biographische Geschichte bei, welche als eine eingefasste Linie erscheint, die jedoch ursprünglich nicht gegeben war. Hier bildet die Perspektive der Betrachtung den Maßstab für ihre Hervorhebungen. Die Biographie ist eine wandelbare Form und wird zu einer Skulptur auf der Zeitachse, wie der Künstler den Begriff versteht.  

Die Präsentation Mic Ennepers enthält auch einen autobiographischen Blick auf sich selbst, wobei die Auswahl des Offenbarten so prägnant wie auch zufällig ist. Die Maßstäbe des Privaten sind nicht öffentlich. Die Zeitformen miteinander mischend bilden die Exponate keinen „chronologischen Lebenslauf“ ab, der gesellschaftliche Bedeutungen schaffen will. Der persönliche Blick fasst das Besondere ins Auge, hebt Unauffälliges hervor und macht es beachtenswert auch für andere. Fotografien halten zufällige Momente fest und bewahren diese vor dem Fall ins Vergessen. Sie kristallisieren zu festen, aus der Vergangenheit losgelösten Substraten, deren ursprünglicher Rahmen hinter einer ästhetischen Ansicht zurückbleibt.

Das „Frühwerk“ des Künstlers beginnt mit einem ersten fotografisch dokumentierten Modell eines konstruierten Hauses, dessen umgebender Raum das Sandmeer des kindlichen Spielortes bildete. Hier findet sich eine frühe Neigung zu architektonischem Bauen. Die perspektivische Zeichnung eines Schiffes aus der Hand des damals Elfjährigen bildet das früheste erhaltene Original. Malerische Phasen des jungen Künstlers wechseln über in Dokumente skulpturaler Tätigkeit. Mit Pergament und Leim geklebte Flugobjekte sind als erhaltene Unikate anschaubar; großformatige Fotografien auf den schräg gestellten Holzwänden zeigen ihre einstige Installation in verfallenen Häusern der Toskana, die sich außerhalb der künstlerischen Rezeption befanden. Eine Bleimaske des Angesichtes und das schweißdurchtränkte Tuch des Läufers lenken den Blick auf die künstlerische Arbeit mit dem Selbst.

Der Begriff der Zeit ist in einigen Kompositionen haptisch spürbar. Die Bleimaske als Relikt einer Werkserie aus den achtziger Jahren bewahrt die Gesichtszüge des Künstlers als junger Mann über Jahrzehnte hinweg und gleicht in ihrer Erstarrung den Totenmasken einstiger Generationen. Fotoalben aus der frühen Kindheit oder aus noch vorgeburtlicher Zeit zitieren familienbiographische Zusammenhänge mit der von Kriegsgewalt gezeichneten Generation der Eltern. Die Zeit als vektoriell in die Zukunft gerichteter und nicht aufzuhaltender Ablauf wird als räumliches Nebeneinander von Ereignissen inszeniert, das verlorene Begegnungen dialogisch erneuert.

Der kunstvoll präsentierte Staub selbst ist als ein Archiv der Zeit zu verstehen. In den wolkigen Gebilden versammelt sich das gestrige Dasein als ein materieller Rest. Die Partikel des Staubes bewahren Segmente von Menschen und Landschaften; schwebend erfüllen sie den Raum und gelangen mit dem Atem in die Brust der Lebenden. So transportiert der Staub wie ein Lichtbild aus früheren Jahrzehnten Spuren der Vergangenheit und gelebtes Sein.

Auch in den vulkanischen Steinen manifestiert sich Zeit. Die aufgesammelte Lava ist Botschafterin der inneren Hitze des Planeten, welche machtvoll die fragile Erdoberfläche durchbrach. Die Zeit der Steine ist eine für menschliche Begriffe fast ewige Dauer; sie reicht bis in die Frühzeit der Erdgeschichte hinein und wird die biologischen Zeitspannen übertreffen. Die toten Gebilde erscheinen magisch aufgeladen mit Äonen.

Rote und schwarze Lava formen die gewaltigen Landschaften der kanarischen Inseln. Hügel und Ebenen scheinen unbelebt von Pflanzen und Tieren; die steinernen toten Gelände werden zu abstrahierten Formen in den großen Landschafts-Aquarellen, einem Hauch von Luft und Erde.

Das Auge des Künstlers liest seine Umgebung, es wählt aus und selektiert. Der künstlerische Blick ist kein Mittel der Orientierung und des Überlebens; er bedeutet eine ästhetische Aneignung des Geschauten. Dieses wird sinnvoll durch die Erhebung zum Schönen in einer zweckfreien Betrachtung; das Gewählte erhält Gewicht. Was der Künstler erblickt hat, möchten auch andere schauen; das Auge des Künstlers verleiht den Dingen Glanz.

Mic Enneper nimmt den Körper in den Blick; er ist von Tod und Sinnlichkeit erfasst. Die Wahrnehmung des eigenen Leibes ist häufig mit einer Todesschau verbunden. Die Sicht auf den weiblichen Körper hingegen als einem Gegenüber wird als Leben und Vitalität erfasst; der schwangere Leib stellt die Pracht der Fruchtbarkeit dar, die aus Liebe hervorgeht. 

Den Objekten und Artefakten in manchen Vitrinen sind Worträtsel zugefügt; triadische Kombinationen mit unklaren Zusammenhängen. Keine gedankliche Verbindung drängt sich direkt auf; der Versuch einer Zuordnung bleibt fragend und ungewiss. Die Wortverbindungen ergeben assoziative Bildräume; sie gestalten schwebende Sinn-Collagen. Personennamen deuten auf Persönlichkeiten mit radikalen künstlerischen oder politischen Positionen; sie stehen für eine bestimmte Daseinsbehauptung; die Worträtsel bilden ein Spiel mit den Bezeichnungen extremer Gefühle und Bedrohungen, die auch Unbehagen auslösen. Sie fügen sich damit in das Werk Mic Ennepers ein, der durch räumliche Eingriffe und Bauten Bedrohungen suggeriert und damit die Selbstwahrnehmung schärft. Die Werke und Betrachtungen des Künstlers stellen Spiegelungen dar zu den Fragen unserer menschlichen Existenz.

 

Copyright @ Claudia Schink, 2014.